Von Julia Backhaus
Hintergrund
Die gebaute Umwelt spielt eine entscheidende Rolle in den globalen Nachhaltigkeitsbemühungen. Allein die Bauindustrie ist für etwa 40 % der weltweiten CO₂-Emissionen verantwortlich. In Deutschland verursachten private Haushalte im Jahr 2021 rund 540 Millionen Tonnen CO₂-Emissionen, was etwa 6,5 Tonnen pro Kopf entspricht. Davon entfielen fast 40 % auf direkte Emissionen wie Heizen und den Gebrauch privater Fahrzeuge (Destatis 2023). Die Bewältigung dieser ökologischen und sozialen Herausforderungen erfordert innovative Forschungsansätze, die technische, soziale, wirtschaftliche und ökologische Perspektiven integrieren.
Der neueste Profilbereich der RWTH Aachen, Built and Lived Environment (BLE), wurde mit der Unterstützung einer Anschubfinanzierung aus der Förderlinie "Profilbildung" des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen ins Leben gerufen, um diese Herausforderung anzugehen. Als horizontale Organisationsstruktur vernetzt das BLE-Profilgebiet Forschende aus verschiedenen Fakultäten der RWTH Aachen, darunter Architektur, Bauingenieurwesen, Maschinenbau, Georessourcen und Materialtechnik, Philosophie, Wirtschaftswissenschaften und Medizin. Neben der engen Zusammenarbeit innerhalb der Hochschule sorgen Partnerschaften mit Praxisakteuren aus Stadt und Region Aachen dafür, dass Forschungsergebnisse sowohl wissenschaftlich anspruchsvoll als auch praktisch relevant sind.
Praktische Ansatzpunkte
Im Rahmen des BLE-Projekts sind drei Fokusprojekte geplant, die alternative Ansätze und Lösungen in realen Kontexten erproben. Living Labs und ähnliche Formate haben sich als kollaborative Forschungssettings etabliert, in denen Wissenschaft, Politik, Praxis und Gesellschaft gemeinsam an urbanen Transformationsprozessen arbeiten. In solchen experimentellen Umgebungen ist ein flexibler und anpassungsfähiger methodischer Rahmen entscheidend, um die komplexen Wechselwirkungen zwischen der gebauten Umwelt und den gelebten Erfahrungen ihrer Bewohner:innen zu verstehen.
Traditionelle Forschungsmethoden reichen oft nicht aus, um die dynamische, kontextspezifische Natur realer Herausforderungen zu erfassen. Transdisziplinäre Forschung muss daher speziell angepasste Methoden einbinden, die disziplinäre Grenzen überwinden und praxisorientierte Lösungen fördern. Um integrierte inter- und transdisziplinäre Forschung in und über die gebaute und gelebte Umwelt zu ermöglichen, entwickelt das BLE-Konsortium eine methodische Toolbox.
Mit diesem Ziel vor Augen war ich sehr dankbar für die Gelegenheit, nach Freiburg zu reisen und mich mit Kolleg:innen am Öko-Institut auszutauschen, die im Rahmen der tdAcademy federführend an der "Neue Formate"-Themenlinie 4 gearbeitet haben. Während meines einwöchigen Aufenthalts konzentrierte ich mich auf folgende zentrale Frage: Wie können Methoden und Methodenkombinationen für transdisziplinäre Forschung systematisiert, strukturiert und in Form einer nutzbaren Toolbox bereitgestellt werden?
Zwischen November 2024 und Februar 2025 trugen Mitglieder des BLE-Konsortiums insgesamt 33 Methoden zur initialen Sammlung der BLE-Toolbox bei, indem sie je Methode ein Formular ausfüllten. Die zusammengetragenen Methoden beinhalteten solche zur Sammlung, Visualisierung oder Analyse von Daten, sowie zur interdisziplinären Zusammenarbeit in Forschung und Lehre und zum transdisziplinären Austausch mit außeruniversitären Akteur:innen, beispielsweise aus der Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft oder dem Unternehmertum. Dank meiner Kolleg:innen in Aachen konnte ich das Fellowship mit dieser umfangreichen Sammlung und einigen ersten Ideen zu ihrer Systematisierung und Typologisierung antreten.
Entwicklung einer Taxonomie für die Toolbox
Zur Entwicklung eines Prototyps der BLE-Toolbox unternahm ich folgende Schritte:
-
Sichtung bestehender Literatur und Toolkits: Basierend auf vorheriger Forschung, darunter Arbeiten des tdAcademy-Teams der Themenlinie 4, identifizierte ich Schlüsselkategorien zur Clusterung von Forschungsmethoden.
-
Entwicklung einfacher Kategorien basierend auf Literatur, eigener Erfahrung und Austausch mit Kolleg:innen in Aachen:
-
Allgemeiner Fokus (z. B. Datenerhebung vs. Stakeholder-Engagement)
-
Methodologischer Ansatz (z. B. numerisch vs. interpretativ)
-
Erkenntnismodus (z. B. disziplinär, interdisziplinär, transdisziplinär)
-
Prozessphase (z. B. Co-Design, Co-Produktion, Co-Evaluation, Co-Integration)
-
Raumkonzept (z. B. physisch, sozial, digital, politisch)
-
-
Unterscheidung von Prozessmethoden und punktuellen Methoden:
-
Prozessmethoden strukturieren die Zusammenarbeit (z. B. Theory of Change, 10 Steps).
-
Punktuelle Methoden dienen der momentanen Datenerhebung und Interaktion (z. B. Workshops, Fokusgruppen, Interviews).
-
-
Ergänzung praktischer Kriterien durch Austausch mit der GTPF-Arbeitsgruppe "Formate, Methoden und Kontext":
-
Vorbereitungszeit
-
Dauer
-
Ideale Gruppengröße
-
-
Hinzufügung einer weiteren Kategorie auf Anregung von Melanie Mbah:
-
Beteiligte Akteure im Forschungsprozess
-
-
Erweiterung um Inhaltskategorien zur Kennzeichnung der Aspekte der gebauten und gelebten Umwelt, die eine Methode erfasst oder adressiert.
Diese Kategorien ermöglichen eine strukturierte und flexible Nutzung der BLE-Toolbox in unterschiedlichen Forschungskontexten.
Wahl der richtigen digitalen Plattform
Um die Toolbox zugänglich zu machen, untersuchte ich verschiedene Online-Plattformen. Viele Plattformen wie Notion erfordern kostenpflichtige Abonnements, die für projektbasierte Forschung unpraktisch sind. Wiki-basierte Lösungen erwiesen sich als vielversprechende Alternative, da sie quelloffen und flexibel sind. Zunächst erwog ich MediaWiki, doch seine technische Komplexität stellte eine Hürde dar. Stattdessen entschied ich mich für DokuWiki, das eine benutzerfreundlichere Struktur bietet und kollaborative Aktualisierungen ermöglicht.
Ein wesentlicher Vorteil von Wiki-basierten Werkzeugen ist ihre kontinuierliche Erweiterbarkeit, wodurch eine Stagnation verhindert wird, wie sie oft bei projektbasierten Toolkits zu beobachten ist. Die Toolbox als offene, dynamische Plattform im Sinne der Open-Science-Prinzipien zu gestalten, stellt sicher, dass sie langfristig ein wertvolles Instrument für Forschende, Praktiker:innen und politische Entscheidungsträger:innen bleibt.
Reflexionen
Während meines Fellowships hat mich eines der Gespräche mit Regina Rhodius dazu angeregt, kritisch über die Umsetzbarkeit idealtypischer methodischer Vorgehensweisen nachzudenken. Angesichts der Komplexität und Unübersichtlichkeit realer Forschung ist es unwahrscheinlich, dass perfekte Prozesse existieren. Dennoch sind manche Methoden – je nach Kontext, Projektphase oder Akteurskonstellation – mehr oder weniger hilfreich. Das unterstreicht die Bedeutung von flexiblen und anpassungsfähigen Toolboxen anstelle starrer Rahmenwerke. Auch wenn es keinen methodischen Ansatz gibt, der für alle Fälle passt, kann ein dynamisches und anpassbares Set an Werkzeugen die interdisziplinäre Zusammenarbeit erheblich fördern.
Die Entwicklung dieser Toolbox war eine spannende und bereichernde Reise, und ich freue mich darauf, ihn gemeinsam mit Kolleg:innen der RWTH Aachen, des BLE und der GTPF-Community weiterzuentwickeln. Durch kollektive Anstrengungen können wir die praxisorientierte, transdisziplinäre Forschung weiter stärken und zur nachhaltigen Transformation unserer gebauten und gelebten Umwelt beitragen.
Ausblick
Meine Arbeit an der Toolbox für transdisziplinäre Forschung in der gebauten Umwelt wird innerhalb des BLE-Projekts mindestens weitere 18 Monate fortgesetzt. Zudem könnten die gewonnenen Erkenntnisse die GTPF-Arbeitsgruppe "Formate, Methoden und Kontext" inspirieren, die sich mit Methodenkombinationen in verschiedenen Forschungsformaten befasst.
Mit dem Ende der tdAcademy als lebendiger Plattform für die Forschung und den Austausch zu transdisziplinärer und transformativer Zusammenarbeit lebt vieles des von der tdAcademy Angestoßenem in der neu gegründeten GTPF-Community weiter. Mein Dank gilt dem gesamten tdAcademy-Team für sein Engagement und seinem Beitrag zur transdisziplinären Forschungsgemeinschaft im deutschsprachigen Raum.
Literatur
Destatis (Statistisches Bundesamt). (2023). Energy flows and emissions. Abgerufen am 28. März 2025 von https://www.destatis.de/EN/Themes/Society-Environment/Environment/Environmental-Economic-Accounting/energyflows-emissions/emissions-energiy_flows.html