Autor*innen: Franziska Ehnert, Hanna Ahlström, Elisabeth Berger, Lisa Bossenbroek, Sierra Deutsch, Livia Fritz, Benjamin Hofmann, Amanda Jiménez Aceituno, Jasmin Jossin, André Mascarenhas, Alexandra Polido, Marco Antonio Teixeira
Wer darf definieren, was eine "gute" Transformation ist? Im Einklang mit der Forschung zu gerechten Nachhaltigkeitstransformationen (Avelino et al., 2024; Bennett et al., 2019; Cousins, 2021; Massarella et al., 2021; Newell et al., 2021; Sovacool et al., 2023) argumentieren wir, dass Fragen der Macht und Agency in der transdisziplinären (td) Forschung oft übersehen wurden, obwohl sie für eine "gute" Transformation konstitutiv sind. Wie ein Problem, von wem und mit welchen Interessen und Perspektiven definiert wird, prägt das Denken über die Ursachen eines Problems und die Art und Weise, wie es angegangen wird. Dies hat grundlegende Konsequenzen für die Prozesse und Ergebnisse von Transformationen. So beeinflussen beispielsweise Machtverhältnisse, welche Akteur*innen und wessen Interessen und Perspektiven berücksichtigt werden. Dies kann Machtasymmetrien verstärken.
Transdisziplinäre Forschungsmethoden und -instrumente sollen dazu beitragen, die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler*innen und gesellschaftlichen Akteur*innen in der Co-Produktion von Wissen zu gestalten. Während td-Forschung das Potenzial bietet, Macht zu übertragen und zu teilen, sind die Dynamiken von Er- und Entmächtigung in realen td-Forschungsprozessen weitaus komplexer. Eine der zentralen Ideen der td-Forschung besteht darin, ein Umfeld zu schaffen, in dem (marginalisierte) Akteur*innen ihre Macht erweitern können, z. B. durch Capacity Building und die Mitwirkung an der Co-Produktion von Wissen. Dies kann jedoch zu unbeabsichtigten Effekten der Entmachtung führen, wenn es nicht angemessen gestaltet wird (z. B. durch die Entstehung neuer Abhängigkeitsverhältnisse) (Avelino, 2017; Avelino et al., 2024, 2019). Zugleich kann eine intendierte Entmachtung erforderlich sein, wenn Status-quo-Akteur*innen, -Strukturen oder -Prozesse weniger mächtige Stimmen blockieren, die eine Nachhaltigkeitstransformation fordern. In Anbetracht der grundlegenden Bedeutung von Macht und Agency in allen Phasen des td-Forschungsprozesses betrachten wir es als wichtig, die Fähigkeit bestehender td-Instrumente, Machtasymmetrien explizit zu adressieren, zu reflektieren und möglicherweise zu verbessern (Chambers et al., 2022; Deutsch et al., 2023; Fritz and Meinherz, 2020). Ziel ist es, in der td-Forschung das Bewusstsein für bestehende Macht- und Agency-Dynamiken zu stärken und bei der Anwendung von Moderationsinstrumenten in heterogenen Kontexten und Gemeinschaften eine Orientierung zu geben.
Wir, die Autor*innen, diskutierten vier td-Instrumente in einem tdAcademy-Webinar (2. Oktober 2024) und einem Workshop auf der ITD 2024-Konferenz "Inter- and Transdisciplinarity Beyond Buzzwords" (5. November 2024), um Reflexivität zu stärken und zu erörtern, wie Macht und Agency in der td-Forschungspraxis besser berücksichtigt werden können. Wir möchten dazu beitragen, dass die Erkenntnisse der kritischen Sozialwissenschaften (d.h. derjenigen, die sich mit grundlegenden Fragen zu gesellschaftlichen Machtdynamiken befassen) in der td-Forschung besser angewandt werden können. In beiden Veranstaltungen wurden die Teilnehmenden gebeten, eines von vier td-Instrumenten kritisch zu prüfen, welche wir im Vorfeld festgelegt hatten. Diese sind Teil von Online-Toolkits, in denen Methoden für td-Forschung dargestellt werden. In den Breakout-Sessions wurden die folgenden Fragen diskutiert:
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Inwieweit fördert das Instrument die Reflexion in der td-Forschung zu Fragen von Macht und Agency?
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Inwieweit trägt das Instrument dazu bei, Akteur*innen mit diversen Stimmen zu stärken, die zuvor möglicherweise nicht gehört wurden?
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Welche Herausforderungen entstehen, wenn Sie das Instrument in einem td-Forschungskontext anwenden, und wie kann das Instrument weiterentwickelt werden, um besser für Fragen von Macht und Agency zu sensibilisieren?
Erkenntnisse und Reflexionen aus dem Webinar und dem Workshop zu vier td-Tools
Actor Constellation
Ein Rollenspiel zur Identifizierung der Relevanz verschiedener beteiligter Akteur*innen für die Bearbeitung einer spezifischen Forschungsfrage. (td-net Toolbox)
Actor Constellation hilft, die eigenen Annahmen über die Rollen von Akteur*innen zu hinterfragen, die Perspektive zu wechseln und auf diese Weise Empathie zu stärken. Unsere Teilnehmenden meinten, dass sie dazu beiträgt, verschiedenen Wissensformen (z. B. indigenes Wissen und Erfahrungswissen) eine Stimme zu geben und bestehende Normen und Werte in Frage zu stellen. Obwohl Actor Constellation die kritische Reflexion der Forschungsfragen unterstützt, geht sie nicht explizit auf die Frage ein, wer das Problem definiert und die Forschungsfragen zu Beginn formuliert. Die Anwendung der Actor Constellation macht daher nicht unbedingt sichtbar, wie die Projektleitung durch ihre starke Position bei der Formulierung der Forschungsfragen Machtasymmetrien verstärken könnte. Actor Constellation könnte erweitert werden, indem mehrfache Iterationen durchgeführt werden, die die Rollen der Akteur*innen verändern. Zudem könnte ein Rollenspiel eingeführt werden, in dem das Publikum (nicht die Akteur*innen selbst) kritische Fragen stellt, wobei die Unterschiede zwischen Perspektiven und Positionierungen anerkannt werden (Positionierungen prägen die Perspektive).
Emancipatory Boundary Critique
Ein Set von Fragen, um Nicht-Expert*innen dabei zu unterstützen, die von Expert*innen vorgeschlagene Problemlösung und die sozialen und ökologischen Auswirkungen dieser Lösung kritisch zu hinterfragen. (td-net Toolbox)
Emancipatory Boundary Critique (EBC) ermöglicht es, Aussagen zu hinterfragen, die weithin als eine Art autoritatives Fachwissen angesehen werden. Die Leitfragen der EBC sind jedoch in akademischer Fachsprache formuliert, was gesellschaftliche Akteur*innen von der Anwendung der EBC abhalten könnte. EBC baut auf vordefinierten Lösungen auf, die von technokratischen Expert*innen entwickelt werden. Das steht im Gegensatz zur gemeinsamen Erarbeitung von Forschungsfragen und potenziellen Lösungen durch wissenschaftliche und gesellschaftliche Akteur*innen. In den Diskussionen stellten die Teilnehmenden fest, dass EBC implizit zwischen Expert*innen und Nicht-Expert*innen unterscheidet. Indem sie solche Grenzen zieht, könnte sie eine Situation reproduzieren, in der Nicht-Expert*innen "fragen" und Expert*innen "antworten". Dies wirft die Frage auf, ob die Beziehung zwischen Wissenschaftler*innen und gesellschaftlichen Akteur*innen extraktivistisch oder dialogisch ist. EBC könnte durch die Anerkennung einer Vielfalt von Wissensformen, z. B. von lokalem und indigenem Wissen, und durch die gemeinsame Erarbeitung von Problemdefinitionen und potenziellen Lösungen weiterentwickelt werden. Die Leitfragen könnten neu formuliert werden, um sie für eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteur*innen zugänglicher zu machen.
Multi-Stakeholder Discussion Group
Ein Ansatz, um verschiedene Akteursgruppen in ein (Forschungs-)Projekt einzubeziehen. (td-net Toolbox)
Multi-Stakeholder Discussion Groups (MSDG) ermöglichen die Einbeziehung eines breiten Spektrums von Akteur*innen mit unterschiedlichen Machtressourcen in td-Forschungsprozesse. Unsere Teilnehmenden kritisierten jedoch, dass die Problemdefinition als gegeben betrachtet wird, wodurch dominante Deutungen möglicherweise nicht erkannt werden. Darüber hinaus wählt die Projektleitung die Teilnehmenden aus, was zu einer subjektiven Auswahl führen könnte. Es könnte eine rational begründete Auswahl angenommen werden, während die Auswahl in Wirklichkeit von versteckten Annahmen geleitet sein könnte. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass einige Teile der Gesellschaft zu wenig Ressourcen haben könnten, um Vertreter*innen zu den Stakeholder-Treffen zu senden. Wie die Diskussionen in den Workshops gezeigt haben, könnte MSDG verbessert werden, indem zunächst verschiedene Wissensformen eingeführt werden, was Akteur*innen ermutigen könnte, ihre Stimme einzubringen, die dies sonst nicht tun würden. Es erfordert zudem eine geschickte und erfahrene Moderation, um zugrundeliegende Machtdynamiken zu erkennen und aktiv zu einer multi-perspektivischen Erkundung der Ziele und des Designs des Forschungsprojekts aufzufordern. Eine initiale Explorationsphase könnte eingeführt werden, um die MSDG gemeinsam mit gesellschaftlichen Akteur*innen zu gestalten.
Prinzipienorientiertes Verhandeln/Harvard-Prinzip (Principled Negotiation)
Umgang mit unterschiedlichen Interessen durch prinzipienorientiertes Verhandeln (i2insights community blog)
Prinzipienorientiertes Verhandeln hat das Potenzial, unterschiedliche Interessen, Positionen und Perspektiven aufzudecken. Die Teilnehmenden stellten jedoch die Realisierbarkeit der Schritte in Frage, z.B. in Bezug auf den ersten Schritt, der darin besteht, "das Problem" von Emotionen und persönlichen Interessen zu trennen - insbesondere in einem Kontext von Machtasymmetrien. Unterschiedliche Interessen sichtbar zu machen und ein aufmerksames Zuhören zu fördern, reicht möglicherweise nicht aus, um divergierende Interessen zu überwinden. Prinzipienorientierte Verhandeln kann möglicherweise nicht helfen, die Stimmen diverser Akteur*innen zu stärken, vor allem weil das "Wie" möglicherweise nicht präzise genug ist, um vulnerable Akteursgruppen zu identifizieren, vertrauensvolle Dialogräume zu schaffen und den entscheidenden Schritt zu gehen, zu fairen Entscheidungen zu kommen, nachdem verschiedene Perspektiven eingebracht wurden. Die Berücksichtigung von Machtdynamiken könnte dadurch verbessert werden, dass der Prozess in kleinen Gruppen mit einer Vertreter*in pro Akteursgruppe beginnt, um jeder Akteursgruppe eine Stimme zu geben. Unsere Teilnehmenden warfen die Frage auf, wie vorgegangen werden soll, wenn sich Akteursgruppen nicht einigen können. Sie schlugen vor, dass prinzipienorientiertes Verhandeln weiterentwickelt werden könnte, um Optionen für mehrere Lösungsansätze zu bieten. Darüber hinaus könnte das Potenzial kreativer, künstlerischer Methoden erforscht werden, um die Interessen und Perspektiven marginalisierter Menschen zu ergründen, was dazu beitragen könnte, die Möglichkeiten diskursiver Ansätze zu erweitern.
Diese Reflexionen sollen die Prozessgestaltung verbessern und die Macht- und Agency-Dynamiken in der td-Praxis besser sichtbar machen. Wir betrachten sie als erste Beiträge zu einer breiteren Diskussion in der Forschungs-Community darüber, wie td-Instrumente das Verständnis von Macht- und Agency-Dynamiken in Nachhaltigkeitstransformationen vertiefen könnten.
Danksagung: Die Ideen zur Verbesserung der td-Instrumente basieren auf Beiträgen von Teilnehmenden unseres tdAcademy-Webinars und unseres Workshops bei der ITD 2024-Konferenz. Darüber hinaus danken wir den Kolleg*innen des ISOE Frankfurt für den konstruktiven Austausch: Alexandra Lux, Chantal Krumm, Oskar Marg und Lena Theiler. Wir danken auch Donata Dettwiler, die uns bei der Gestaltung des Workshops auf der ITD 2024 Konferenz unterstützt hat. Wir danken der tdAcademy für die finanzielle Förderung von zwei Fellow Groups, in denen wir die Ideen für die beiden Workshops und diesen Blogpost entwickelt haben.
Abbildung 1: Workshop auf der ITD 2024-Konferenz. Credits: Franziska Ehnert
Abbildung 2: Workshop auf der ITD 2024-Konferenz. Credits: Franziska Ehnert
Referenzen:
Avelino, F., 2017. Power in Sustainability Transitions: Analysing Power and (Dis)Empowerment in Transformative Change towards Sustainability: Power in Sustainability Transitions. Env. Pol. Gov. 27, 505–520. https://doi.org/10.1002/eet.1777
Avelino, F., Wijsman, K., Van Steenbergen, F., Jhagroe, S., Wittmayer, J., Akerboom, S., Bogner, K., Jansen, E.F., Frantzeskaki, N., Kalfagianni, A., 2024. Just Sustainability Transitions: Politics, Power, and Prefiguration in Transformative Change Toward Justice and Sustainability. Annual Review of Environment and Resources. https://doi.org/10.1146/annurev-environ-112321-081722
Avelino, F., Wittmayer, J.M., Pel, B., Weaver, P., Dumitru, A., Haxeltine, A., Kemp, R., Jørgensen, M.S., Bauler, T., Ruijsink, S., O’Riordan, T., 2019. Transformative social innovation and (dis)empowerment. Technological Forecasting and Social Change 145, 195–206. https://doi.org/10.1016/j.techfore.2017.05.002
Bennett, N.J., Blythe, J., Cisneros-Montemayor, A.M., Singh, G.G., Sumaila, U.R., 2019. Just Transformations to Sustainability. Sustainability 11, 3881. https://doi.org/10.3390/su11143881
Chambers, J.M., Wyborn, C., Klenk, N.L., Ryan, M., Serban, A., Bennett, N.J., Brennan, R., Charli-Joseph, L., Fernández-Giménez, M.E., Galvin, K.A., Goldstein, B.E., Haller, T., Hill, R., Munera, C., Nel, J.L., Österblom, H., Reid, R.S., Riechers, M., Spierenburg, M., Tengö, M., Bennett, E., Brandeis, A., Chatterton, P., Cockburn, J.J., Cvitanovic, C., Dumrongrojwatthana, P., Paz Durán, A., Gerber, J.-D., Green, J.M.H., Gruby, R., Guerrero, A.M., Horcea-Milcu, A.-I., Montana, J., Steyaert, P., Zaehringer, J.G., Bednarek, A.T., Curran, K., Fada, S.J., Hutton, J., Leimona, B., Pickering, T., Rondeau, R., 2022. Co-productive agility and four collaborative pathways to sustainability transformations. Global Environmental Change 72, 102422. https://doi.org/10.1016/j.gloenvcha.2021.102422
Cousins, J.J., 2021. Justice in nature-based solutions: Research and pathways. Ecological Economics 180, 106874. https://doi.org/10.1016/j.ecolecon.2020.106874
Deutsch, S., Keller, R., Krug, C.B., Michel, A.H., 2023. Transdisciplinary transformative change: an analysis of some best practices and barriers, and the potential of critical social science in getting us there. Biodivers Conserv 32, 3569–3594. https://doi.org/10.1007/s10531-023-02576-0
Fritz, L., Meinherz, F., 2020. Tracing power in transdisciplinary sustainability research: an exploration. GAIA - Ecological Perspectives for Science and Society 29, 41–51. https://doi.org/10.14512/gaia.29.1.9
Massarella, K., Nygren, A., Fletcher, R., Büscher, B., Kiwango, W.A., Komi, S., Krauss, J.E., Mabele, M.B., McInturff, A., Sandroni, L.T., Alagona, P.S., Brockington, D., Coates, R., Duffy, R., Ferraz, K.M.P.M.B., Koot, S., Marchini, S., Percequillo, A.R., 2021. Transformation beyond conservation: how critical social science can contribute to a radical new agenda in biodiversity conservation. Current Opinion in Environmental Sustainability 49, 79–87. https://doi.org/10.1016/j.cosust.2021.03.005
Newell, P., Srivastava, S., Naess, L.O., Torres Contreras, G.A., Price, R., 2021. Toward transformative climate justice: An emerging research agenda. WIREs Climate Change 12. https://doi.org/10.1002/wcc.733
Sovacool, B.K., Bell, S.E., Daggett, C., Labuski, C., Lennon, M., Naylor, L., Klinger, J., Leonard, K., Firestone, J., 2023. Pluralizing energy justice: Incorporating feminist, anti-racist, Indigenous, and postcolonial perspectives. Energy Research & Social Science 97, 102996. https://doi.org/10.1016/j.erss.2023.102996