Peter Wehling war im Mai und Juni 2021 im Rahmen des tdAcademy Gäste- und Fellowship-Programms Gastforscher am ISOE. Sein Fokus lag dabei auf institutionellen und konzeptionellen Widerständen gegen Transdisziplinarität im etablierten Wissenschaftssystem. In diesem Beitrag fasst er seine Beobachtungen und Forschungsergebnisse zusammen.
Welche positiven, produktiven Wirkungen kann transdisziplinäre Forschung auf die Wissenschaft haben? Um diese Frage zu beantworten, genügt es nicht, den Blick allein auf die wissenschaftliche Qualität und Originalität transdisziplinärer Forschungen und ihrer Ergebnisse zu richten. Die wissenschaftlichen Wirkungen von transdisziplinärer Forschung sind vielmehr auch davon abhängig, wie offen und aufnahmebereit die etablierte, disziplinäre Wissenschaft für kritische Impulse und Irritationen aus der transdisziplinären Forschung ist.
In dieser Hinsicht ist jedoch sehr häufig zu beobachten, dass die etablierte Wissenschaft mögliche Wirkungen transdisziplinärer Forschung abwehrt und blockiert, indem sie Transdisziplinarität als abweichende, fragwürdige Forschungspraxis aus dem Bereich ‚guter‘ und ‚legitimer‘ Wissenschaft ausgrenzt. Während meines Gastaufenthalts am Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) im Rahmen des Projekts tdAcademy habe ich derartiges „boundary-work“ (Thomas Gieryn) [1] der etablierten Wissenschaft gegenüber transdisziplinärer Forschung an drei Beispielen genauer untersucht.
Konzeptionell und methodologisch orientiere ich mich dabei an den inter- und transdisziplinären Science and Technology Studies (STS) [2], die, anders als viele Richtungen der disziplinären Wissenschaftssoziologie und -philosophie, keine normativen Vorannahmen darüber treffen, was ‚gute‘ und legitime Wissenschaft ist und was nicht. Eine STS-Perspektive beobachtet vielmehr, wie und mit welchen Zielen solche Grenzziehungen in wissenschaftlichen, wissenschaftstheoretischen oder -politischen Diskursen vorgenommen werden und welche impliziten oder expliziten Charakterisierungen ‚echter‘ Wissenschaft einerseits, fragwürdiger Forschung andererseits, dabei ins Spiel gebracht werden.
Exemplarisch analysiert habe ich unter dieser Perspektive
- erstens den gegenüber transformativer und transdisziplinärer Wissenschaft erhobenen Vorwurf des „Solutionismus“, das heißt einer Fixierung auf schnelle Lösungen für komplexe Probleme;
- zweitens die implizite oder explizite Annahme der „Normalität“ disziplinärer Forschung und ihrer Unverzichtbarkeit für Wissenschaftlichkeit und wissenschaftlichen Fortschritt, sodass Transdisziplinarität in die Randbereiche des wissenschaftlichen Spektrums abgedrängt wird;
- drittens die in internen Debatten der deutschen Umwelt- und Nachhaltigkeitssoziologie zu beobachtende Unterstellung, Transdisziplinarität tendiere im Gegensatz zu disziplinärer soziologischer Forschung zu normativen Wertungen und erschwere oder verhindere sogar einen analytisch-reflexiven Gegenstandsbezug der Wissenschaft.
In allen drei untersuchten Fällen lassen sich trotz vieler Unterschiede im Detail typische Muster von boundary-work erkennen:
Auf der einen Seite wird ein höchst fragwürdiges, idealisiertes Selbstbild etablierter disziplinärer Forschung als „reiner“, wertneutraler, nur an Wahrheit orientierter und gesichertes Wissen produzierender wissenschaftlicher Aktivität gezeichnet und aufrechterhalten.
Auf der anderen Seite wird transdisziplinäre Forschung durch die ungerechtfertigte Zuschreibung zweifelhafter Charakteristika, etwa vordergründiges Nützlichkeitsdenken anstelle von Wahrheitsorientierung, mangelnde Wertfreiheit oder Komplexitätsverlust, systematisch delegitimiert und als nur partiell wissenschaftliche, wenn nicht sogar unwissenschaftliche Praxis abgewertet.
Solche Grenzziehungen erleichtern es der etablierten Wissenschaft, die produktiven Irritationen und transformativen Impulse, die von transdisziplinärer Forschung ausgehen (könnten), von sich abzuwehren oder gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen. Die Untersuchung der wissenschaftlichen Wirkungen transdisziplinärer Forschung muss deshalb solche Abwehrhaltungen, Berührungsängste und Strategien des boundary-work mit einbeziehen und zum Gegenstand kritischer Analyse machen.
[1] Thomas Gieryn, Boundary-work and the demarcation of science from non-science: Strains and interests in professional ideologies of scientists. American Sociological Review 48(6) (1983): 781-795. https://doi.org/10.2307/2095325
[2] Susanne Bauer, Torsten Heinemann, Thomas Lemke (Hg.): Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven. Berlin: Suhrkamp 2017
Peter Wehling ist Privatdozent für Soziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er hat an verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen gearbeitet, darunter von 1990 bis 1998 am Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) in Frankfurt. Zu seinen Forschungsthemen gehören: Wissenschafts- und Technikforschung/Science and Technology Studies (STS), Soziologie des Wissens und Nichtwissens, Soziologie der Biopolitik und Bioethik, Umweltsoziologie und Kritische Gesellschaftstheorie.
Letzte Veröffentlichung: Why Science Does Not Know: A Brief History of (the Notion of) Scientific Ignorance in theTwentieth and Early Twenty-First Centuries, in: Journal for the History of Knowledge, 2(1) (2021): 1-13. http://doi.org/10.5334/jhk.40 (Open access)
Kontakt: wehling@em.uni-frankfurt.de